wo das meer stillsteht

Freitag, 16. Dezember 2005

...

[Wo das Meer stillsteht 4,11]

Das einfachste

ein piranha entblößt einen mund voll lächelnder zähne
doch der mond – wie ein erschossener ausbrecher
stirbt mit dem gesicht nach unten

reiß ab vom schatten das licht
vom licht – reiß ab dieses vom licht verführte versuchskaninchen

der fluß hat getobt
um vier kleine beine – weiße knochen sind alles, was vom verzweifelten paddeln blieb
fest umhüllt von letzter bluthaut
noch starren die augen den himmel an – und wissen nicht, wer ihn lebendig verspeist

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Freitag, 9. Dezember 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,10]

Ernte

diese enthülsten – brennend heißen dächer
scheinen auf die tenne des sommers
diese himmel, die sich selbst der sonne ausgesetzt haben, werden plötzlich schwarz

das meer schrumpft – hell glänzende silberne dachziegel
zwei bäume brausen in entgegengesetzten richtungen davon
zwei hungersnöte – in eines menschen korn gesät

der tod des nächsten jahres ist bereits vorüber
das sonnenlicht hat sich den hals gebrochen
deine augen – ebnen die stadt der blinker ein

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 4. Dezember 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,9]

Schlangenbaum

1

fatale einbildungskraft, verpflanzt ins jenseits des fensters
in diesem augenblick – ist der garten teil eines giftigen himmels
in einer flut vervollständigtes grün
geschwollenes pferd – oder an faulen eingeweiden pickende krähe
ein kind starrt einen baum an und sagt – schlangen
ein zischen in den stumpfen ohren des sonnenlichts

2

der sturm bringt dich zum leben
sturm – schlangen peitschender künstler
doppelt erdichtete zweige
von schwänzen versiegelte knoten auf schrillen flöten
wie ätzende, in gebärmütter eingesperrte embryos

3

des frühlings schuppen aufbrechender finger – spuckebedeckt
gleitet auf seinen bauch

4

wo anfangen – dies sind bäume – und das sind schlangen
von einem toten zum andern
wie erträgt der schnee im körperinnern den schmerz der sich ablösenden haut
nach draußen fallend

5

der garten – ist teil eines giftigen gedichts
das ganze wetter wurde gerade aufgefaltet
alle bäume – folgen dem, was in einer schlange ausgebrütet wurde
dem, was furcht in eines kindes auge – was spaß gewesen
tief in deiner kehle zurückgehaltene zähne
erfinden diesen vogelsang – nachthimmel
niedergedrückt in schwarz-grünen morast, kriecht im widerspruch zu einem stück blau
freiwillig hungernde worte festgebunden in wahnsinns-früchten

6

in jeder minute wie viele atemzüge
in jedem atemzug wie viele schlangenbäume
in jedem schlangenbaum wie viele organe, die sich nach tod sehnen

7

die gestalt des vergehens hängt im innersten herzen – häuft erdboden an
ein baum, der fortwährend hervorwächst aus deiner beharrlichkeit
abwärts gebogen – eine beschnittene gerte aus reinem fleisch
treibt eine knospe, die keinerlei gift fürchtet
vier jahreszeiten – erörtern eine düstere winterästhetik
kaltes blut sickert in alle zerbrechlichen gelenke
im wind sich rückwärts bewegende füße – wie zungen verschlungen
und der dichter streift immer noch blätter ab
wo doch grausamer noch als eine pflanze die entblößte schlange
die mit kindheitserinnerungen
das kind durchbohrt
wie ein schlangenbaum, der sich zufällig in der muße verwirklicht

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 24. November 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,8]

Die gestalt der gespenster

4

ja – tod das muttergleiche auge
hat den baum umduftet
’s ist der tod in einer mutter auge, der ein sommergedicht gebiert
diese purpurblume blühte den ganzen weg zu deinem ende hin
spiegelung reinen schwarzen marmors – läßt dich sterben, wenn du beginnst
du selbst inmitten einer orgie in den tiefen des himmels
ein verrückter – von der verrücktheit endlos eingegraben in eine spiegelung

augenblicklich siehst du das du in der anderen seite des steines dort

der ozean hat den tumbsten der blinden herausgewittert
als die lichtzehen verwundet – blau kann nicht wassertropfen sein
zwischen zwei spiegeln, die in entgegengesetzte richtungen fließen, gibt es kein entrinnen

niemals kann sein
wenn wir die simpelsten aller seelengestalten – sommer
hält den glanz aufrecht – mit einer mütter verzehrenden krankheit

wenn seelen einsamer sind als blumen je
dann wirst du hoffnungslos geboren vom tode deiner eig’nen augen

der zikaden zirpen – im körper – ohne ende

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 16. November 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,7]

Die gestalt der gespenster

3

nein. aber angenommen, gespenster könnten nicht umhin, eines menschen alter zu haben, hätte tod dann noch einen sinn? verweste kinder *), zu scharen versammelt, würden das dunkelrote fleisch des jüngsten ins leben rufen. ist nicht auch die fliege, die in deinen mund fällt, tausende von jahren alt? sie legte ihre eier zu gleicher zeit. ein in deinem fleisch vergrabener kleiner weißer same erleuchtet dich. denn fleisch ist das einzige, das zum leuchten gebracht werden kann. den toten gefällt die zeremonie der geburt.

bei der feier zu einem fünftausendsten geburtstag wirst du all deine vergangenen du’s wiedererkennen – und das gespenst, das niemals dahinschwinden kann. einander träumend wie in einer umarmung unter der warmen berührung eines fingers, der nicht berühren kann, bist du und du zu einer familie geworden. es kann nur dieser körper sein, ein unzählige male verloren gegangener ort, und beide sitzen sie auf dem kleinen platz aus stein, der das tiefere schwarz vergessen hat, das zurückgelassen wurde. nein. schmerz. tausend jahre dehnen sich in ein einziges zucken.

*) die englische übersetzung hat „rotted children“, die italienische „giorni marci“ und das chinesische orginal gibt folgendes wieder (leider ist es mir nicht gelungen, einen besseren scan herzustellen):
yang182

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 9. November 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,6]

Die gestalt der gespenster

2

der letzte tag hat zahllose türen – und läßt dich zur anderen seite gehen

im schweigen sitzen grad so wie im regen
versteigerter grund und boden – lernt zu leben, ohne zu atmen
ein an den kopf gehängter ozean wird in tausend äpfel injiziert
wenn der tod süß wird – reift auch der himmel

hätte das grün die abschiede aller verwandten gesammelt
die jahreszeiten öffneten die prächtige umfassungsmauer, um einen baum zu versetzen
dein schrecken versetzte dich ins lehrbuch

dann, wie die sterne nach dem tod, würde kein tag mehr verborgen sein
und jeder würde gespenster möglich machen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 2. November 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,5]

Die gestalt der gespenster

1

die erste sommerzikade beginnt zu weinen
die augen der toten mutter – haben dich nie verlassen
wie der himmel, den sie nacht nennen

oder was sie tag nennen
oder drückendes blau ist reiner schwarzer marmor an den wänden

eine lippe wurde zart wie gras geschnitzt
und eine zunge so verletzlich, daß sie nicht aufhören kann zu schreien
was auch immer gerufen wurde – vom tod geliehenes fleisch
wieder stirbt schatten – wird nur abgestoßen, um menschliche haut zu werden
großer weißer vogel – winziges baby

baumflügel schlagen
vom licht – gleiten furchtbar auf das licht zu, das dich bloßstellt

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Dienstag, 25. Oktober 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,4]

Vogelbuch

im theater der dunkelheit – sind wir
größer und blasser – als diese vögel
unsere gedärme nach außen gekehrt

ein buch, das sich selbst verabscheut
ein paar flügel klingen wie papier
eine den flug steuernde hand wird knochen, wenn das licht sie erreicht

vom himmel erreicht – installiert in den tiefen grüner blätter
die lesestühle düsterer sterne schauen darauf
die toten nehmen platz – lauschen respektvoll den worten, die den tod erhellen

brutal ans rückgrat genagelt – ohrensausen schrieb die wörter immer weiter
der grabsteinwind prallt gegen die schwarzgefrorenen birnen an den ästen
ein buch trägt das ziel, das die see in blindheit versenken wird

wütende vögel – erschöpft
machen leben zu einem drehbuch – jene, die genug gelebt haben
kehren das innere nach außen – suchen das von ihnen verschlungene gold

aber die axt wählt nicht eine beliebige seite
nachdem die federn einer jeden seite ausgerupft sind – verletzt sie den ganzen himmel
wenn wir aufhören zu klatschen – fallen wir in – stücke geschlagen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Montag, 17. Oktober 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,3]

Lotrecht zum papier

lotrecht zum papier ergreifst du
einen hauch morgendunst – ein ruhiger baum auf dem friedhof
der himmel erwacht im schlafzimmer
mädchen widersetzen sich – dem zügellosen stiel aus licht
eine kleine tag=walnuß hat den nachweis des gehirns eingeäschert
vier jahreszeiten – alkohol erhält den kopfschmerz
hält die gabel fest am schimmernden eßtisch des ozeans
die welt füttert ihren mund mit ihren eig’nen augen

ein gedicht, das niemals endet
lotrecht zum papier – just geschrieben von einem grabstein
überflutet vom strom des fußbodens
blut – eingehämmert in eine leiter aus gefrorenen füßen
zieht in die drängende menge, die die verwesung aufkauft
wieder hält ein morgen die gefühlskälte der uhr aufrecht
eine lotrecht zusammenkrachende straße – sagt
dies sei noch nicht das letzte mal – du seist noch nicht gefallen aufs papier

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Montag, 10. Oktober 2005

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[Wo das Meer stillsteht 4,2]

Abwesenheit

licht auf den körpern der lebenden ist lang schon tot
so wird das weiße – allerorten vertüncht
in der mitte niedergehalten durch aufgeschrecktes vogelgeschrei
geht fort – wie der abgesonderte himmel
ein körper, der in den ozean springt – macht den ozean zu einer wunde
dieses blau wie das blau einer schuld
dieser vom fleisch genötigte morgen übergibt
eine zementlandschaft
enthüllt – die unfähigkeit deiner augen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

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