wo das meer stillsteht

Freitag, 17. Februar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,21]

Raum

vögel drücken fieberhaft luft beiseite
die seufzende oberfläche des meeres – klares, sich windendes glas

beschützt von einem apfelbaum
ein vielgepriesener apfel – eine grüne kupplerin

erträgt die rauchenden blumen
nimmt die form schneeweißer apfelschimmelflecken an

plötzlich kollabiert die ganze stadt nach hinten
strahlender sommergarten – ein toter schmetterling

in schweiß und schamhaaren verborgene münder
nehmen so vorzügliche rache an der uhr

zwei züge fahren aus den körpern
stoßen pünktlich in einem wort frontal zusammen

am mittag – ein vom gedächtnis verlassenes blaues feld
hört endlich auf, einen kahlen kopf zu bombardieren

wie der pullover des todes schrumpft
ist Hölle – so winzig, daß wir uns zu zweit nicht hinlegen können

[Wo das Meer stillsteht 4,20] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,22]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 12. Februar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,20]

Prähistorie

der tag nimmt die maske des tages ab – was übrig blieb
ein kindermädchen, das dir einen klaps auf den rücken gibt
der himmel noch immer voller mordgedanken

ein fenster – älter als haifischzähne
wenn es der geschichte verlorengeht – schaut es aufs meer
eine blaue zunge, die gnadenlos in den reiseführer leckt
so aufgedreht, daß das fleisch am strand völlig nackt ist
in der lodernden hitze – der tod beschleunigt

ein windatem kann diese welt erschüttern
der wind der letzten tage – wer wird sein das letzte verlassene kind?
jedes gesicht verbirgt den stein hinter dem gesicht
wie in der prähistorie – eine von zwei händen gefütterte hungersnot
meeresstaub, der fliegt
auf spinnenbeinen stehen
ein strahlender baum, ganz behangen mit blumenköder
zu verleiten – das vor tausenden von jahren verleitete
du

[Wo das Meer stillsteht 4,19] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,21]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Samstag, 4. Februar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,19]

Metapher

hinterher – brüten, wie immer, die himmelsverbrechen auf deinem körper
einen grünen zweig, der über vögel herfällt
ein zwielicht beschließt, die lautsprecher abzuschalten
warum spielen sie nicht?
keine dunkelheit war je fragment
da ist eine oper – eine der rollen öffnet den mund nicht
ein fluß – verwandelt die passanten an seinem ufer in ertrinkende
die spannweite der brücke in deinem körper
du mußt auf diesen endpunkt zugehen, den du immer vermieden hast
vergessen auch wieder von tagen, die es verschmähen, dich zu vergessen
mondlicht – transparent nur, wenn es vorüber
läßt dich eine landschaft lieben, die du nur hassen kannst
pause
so still all die musik, die du hörtest

[Wo das Meer stillsteht 4,18] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,20]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

“so still all die musik, die du hörtest“ – übliche diskrepanzen, die vielleicht alle dasselbe meinen, nämlich die in der stille er- und nachklingende musik. in der englischen übersetzung heißt es „so silent you have heard all the music“ und in der italienischen „tanto silenzio da ascoltare tutta la musica“, die die stille eher zur voraussetzung macht. während im englischen eher eine feststellung erfolgt. meine version führt die musik direkt in ein stilles hören. aber diese entspricht auch ein wenig meiner intention: den text, so wie ich ihn vor mir habe, skizzieren, ohne die prätention, ihn genau wiedergeben zu wollen, da dies wegen meiner unkenntnis des chinesischen nicht geht.

Montag, 30. Januar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,18]

Museum

einsamkeit ist nicht das letzte bollwerk – sie ist nichts
der reine tod gleicht den im saal arrangierten blumen
farbenprächtig – durchschnittene kehlen
die vom märz ausgesandte zarte süße
auf das blut sollte man nicht achten – dann gleicht es eher einem meisterwerk

hätte lampenlicht die sonne nicht ersetzt
dieser goldene zweig wäre verdorrt

die marmorwand der nacht und nacht – auf hochglanz poliert
wenn die bronzeaxt des vogelgesangs zuschlägt
niemals gefallener regen – verbreitet den einzigen inhalt des himmels
und wir – ein von der bewegung abhängiges thema
sitzen nutzloser als zuvor außerhalb des gemäldes
und sehen uns ausgekratzt von der hand eines meisters

[Wo das Meer stillsteht 4,17] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,19]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 25. Januar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,17]

Oper

der klang des singens kehrt uneilig zurück zum letzten sitz des nachmittags
wir sind nackt unter dem nackten himmel
aufrichtiger noch sind die vögel – fliegen alle vorüber goldgelb
kein jugendliches timbre in altersschwachen ohren
dies ist der frühling – frühling ist zum sterben die beste zeit
um die tragödie eines jeden buches zu lesen

wenn schweigen eine geschichte nochmals erzählen kann
die flamme des himmels – umarmend und dennoch erschreckend
gibt diesem fenster einen strauß fleischfarbener blumen
gibt dem zuschauenden nachmittag ein endlos fallendes meer
der goldene sturm – schmiedet den schmerz im hören
läßt uns kalt werden wie kinder
eine dämmerung zu spät für abschiede, um vom himmel abschied zu nehmen
doch der himmel – was sagte er?

nacht hat uns den rücken gekehrt
dunkelheit ist die trostlosigkeit hinter den kulissen

[Wo das Meer stillsteht 4,16] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,18]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 19. Januar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,16]

Porträt eines mittelalterlichen heiligen

ruhige einwilligung in den tod vor zeiten
wenn ein name eine art weisheit aufhebt
fleisch – akzeptiert letztendlich das gold des leidens

jedes kind lernt, das weinen zu nutzen
um darüber zu disputieren, ob die nachtphilosophien
stets mehr seien als die nächte selbst

ein requiem kann nicht singen, was jenseits der wunden liegt
noch können pinselstriche
die unpassende belichtung der augen wiedergeben

der tiefe himmel erlaubt nicht, daß man in ihn hineinfällt
seitdem – was wir erfunden
ist nichts als wortreiche distanz zwischen ohr und auge

[Wo das Meer stillsteht 4,15] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,17]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

„wenn ein name eine art weisheit aufhebt“ – für: „when a name cancels a kind of wisdom“, die italienische übersetzung hat: „come un nome neutralizza una intelligenza“. mich lockte hier das dreideutige „aufheben“.

„zwischen ohr und auge“ – für: „between ear and eye“, die italienische übersetzung hat statt dessen: „tra bocca e timpano“ (zwischen mund und trommelfell) --- was interessante überlegungen zu den sinnesorganen eingibt : zwischen mund und ohr schien mir einleuchtender zunächst : dann aber der gedankengang : daß zwar ohr immer auch eine parabolantenne zum empfangen : daß zwar auge immer auch eine linse zum empfangen : daß zwar mund immer auch eine höhle zum empfangen der laute, die darin hausen wollen : hier erstes zögern : den mund als empfänger empfinden wir : wenn’s ans essen und trinken geht . das ohr aber als sender : kommt uns nicht in den sinn : auch nicht das auge als sender (es sei denn gegenüber der geliebten oder des gehaßten : if looks could kill) : dennoch scheint mir : als sei wahrnehmung gleichzeitig auch ein mitteilen der wahrnehmung : insofern teilt das ohr mit : teilt das auge mit : nimmt der mund jenseits aller seiner geschmacksnerven auf der zunge wahr : wenn er spricht

Samstag, 14. Januar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,15]

Mann aus zement

1

unmenschlich das mondlicht – schrumpft erneut, um das künstliche
fleisch von vier himmelblauen jahreszeiten zu werden – blutverlust
wird ganzjähriges grau
das laufen der kinder als emblem für todesgewißheit

2

die toten zermahlen vom schnee, der sich in den gliedern gesammelt hat
ein zementsarg
verwandelt lebendige vögel in nägel
wildkatzen kreisen im hohen dickicht
schmutzige schwäne in emsiger brunst
reißen auf jeden tages steppdecke aus zement

3

wohin laufen – wohin nicht laufen – wohin kannst du nicht laufen

nicht laufen können

der ganze körper fest eingeschlossen in das fenster der nacht
ein leben lang klettert die eidechse eine knochenwand hinauf
tiefer sickert der ozean aus dem sand
eines steines scham – ist es, den klang schwacher herzschläge zu ertragen

4

die hand des himmels wird erbarmungslos draufknallen
immer ein bißchen spät die hilfeschreie – später nur als der tod

immer noch spielst du mit statuen
du kannst dich nur einholen, wenn du im keller lebst

[Wo das Meer stillsteht 4,14] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,16]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Samstag, 7. Januar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,14]

Universität

wir streichen die marmelade einer generation aufs brot
wind – und rosa mädchenwaden
werden in den entschlossenen blick eines hungrigen wolfs gezwängt

kauen

das leuchtende weiß falscher zähne breitet sich aus im blut
sonnenlicht fährt fort, die überall im himmel herumstehenden antiken statuen zu zermahlen
der kopf der pfahlramme nickt bei jedem stoß

schlucken

sauber festgeklemmtes flügelfleisch
der klang des unterrichts ein von der kehle trocken gewrungenes handtuch
zum mittagessen – der rasen

den mund abwischen

pünktlich das wissen sauberwischen
bringt die um das armgelenk gewundene schlange in ordnung
wie die bei der promotion zu marmor gewordenen leute

ausscheiden

ausverkauf des masturbationsalters
schwarze kleiderärmel mit frischem orangensaft bespritzt
aufgeschwollener als alpträume
verderben – reift in einem verdorbenen magen

[Wo das Meer stillsteht 4,13] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,15]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Freitag, 30. Dezember 2005

[Wo das Meer stillsteht 4,13]

Park

frühlingskräfte – werfen einmal mehr
einen schwarzen zweig aus

ein walroß im sturm
gelähmt auf einer bank – bleckt die zähne

der nordpol kann immer das grün der vorstellungskraft benutzen
um ein haus zum aufbewahren der leichen zu bauen

sprechen – sieh diese freude
ein hund wird dazu verleitet, wie verrückt davonzulaufen

[Wo das Meer stillsteht 4,12] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,14]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 21. Dezember 2005

...

[Wo das Meer stillsteht 4,12]

Fiesta

sonnenlicht jagt dich fort – und dunkelheit öffnet ihre büsche
der dichter stirbt bei einem autounfall
dichtung – verstümmelt in einem farbig gedruckten himmel

das ständige anschlagen der glocken ist wie eine irrsinnige gabe
kinder träumen von schlangen, die im
kleinen loch der palme überwintern
blasse nebel sondieren den eingang

die dem himmel entgegengesetzte richtung
verdient es nicht – hölle genannt zu werden

[Wo das Meer stillsteht 4,11] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,13]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Zufallsbild

lydia

auch

Dieses Weblog wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht.

Blogged.com

Aktuelle Beiträge

...
an der wand der schatten der glühbirne links daneben spinnwebenreste wi e...
parallalie - 10. Feb, 21:48
Ibn Hamdîs, Diwan, XXI
Er beschreibt eine Kerze 1 Eine Lanze aus Wachs, aufrecht...
parallalie - 5. Feb, 21:30
Auf dem Damenweg
Ein Vogelflug oben im Himmel Unten im Tal am Ohr das...
parallalie - 1. Feb, 23:06
Ibn Hamdîs, Diwan, XX
Er macht eine Satire auf einen Strauß Blumen 1 So...
parallalie - 1. Feb, 19:00
Ibn Hamdîs, Diwan, XIX
1 Zu Unrecht straftest du meines Herzens Zärtekeit mit...
parallalie - 31. Jan, 21:06

Status

Online seit 7234 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 11. Feb, 14:11

Credits


Äpfelschuh'
black is black is black
che pizza!
Chemin des Dames
Cholera moribus
d-land
Giacomo Joyce
Ibn Hamdîs
ibridi
Impressum
in italiano
iste
kaefige
la torre
lyrik-lyrik
lyrisches intermezzo
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren