wo das meer stillsteht

Freitag, 28. April 2006

[Wo das Meer stillsteht 5,2]

Wo das meer stillsteht (1)

2

wirklichkeit - schmälert einmal mehr den dichter
ein kind hat das recht, einen bündigen tod zu offenbaren
flammen bringen körpermassen wieder zurück auf null
haß - hat die aschen des frühlingsanfangs vereint
von staubfäden ausgespieener dicker rauch - je ruhiger desto hochfahrender

der reine schrecken deines wünschens
dieser eine tag - hat den gram aller tage abgenutzt
wenn feuer - die lungenflügel würgt
meerwasser - schaut, wie mutters glieder wirbeln und verdampfen
ausgepreßt ins meer der garten des letzten jahres

aufsteigend zum zenith durch bestürzte möwenschreie
die unerlaubten tode kleiner kinder
lassen den tod - für den frühling als ersatz einspringen
eine zufällige feindschaft - die feindschaft all deiner zukunft im dunkel
weil das leben verweigert wird in diesem augenblick

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Dienstag, 18. April 2006

[Wo das Meer stillsteht 5,1]

5. Wo das meer stillsteht

Wo das meer stillsteht (1)

1
blau ist immer höher - wenn deine abscheu wählt
das meer - wenn eines menschen starren das meer nötigt
doppelt öde zu sein

zurückkehren wie immer
in das gemeißelte steinohr, in dem das getrommel zunichte wird
wo winzige korallenleichen - in einen schneesturm rieseln

glänzende flecken auf toten fischen
wie der himmel, der all dein sehnen hütet

zurückkehren zur grenze - scheint grenzenlos
zurückkehren zu den klippen - sturmköpfe ringsum
deine orgel ist dazu verdammt, nach deinem tod
weiterzuspielen - melodien der verwesung tief im fleisch

wenn das blau schließlich erkannt wird - das verwundete
meer - schimmernd mit tausenden kerzen steht still

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Montag, 10. April 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,29]

Brechts letzte Frage

winter bedeutet schwarz werden der pinien
schnee - bedeutet in einem unbelegten raum
lampenlicht von morgens bis abends

erhellt - einen belegten friedhof
ein entkleideter schädel läßt dich noch mehr einem dichter ähneln
hängt aus dem fenster die öffentliche rolle deines letzten lebens

bedeutet einen besuch bei deinem gefrorenen lächeln
den einband von glas - die inhalte ein schneesturm
des todes repertoire - ein menü der stadt

laß den glockenklang zwischen deinen beiden endpunkten ein händeklatschen sein
zwei du - die sich einander einbilden
die häßlichen vögel der hände schreiben den falschen grauen himmel

es bedeutet, daß die toten seit langem schon
diesen grabstein außerhalb des arbeitszimmerfensters gesehen haben - wie einen beileidsbrief
das grün einer jeden piniennadel wird schließlich vermietet

läßt das widerstreitende - das noch vorhandene sein
das ganze makellose zwielicht erfindet deine verrücktheit
fragt - was denn die nacht habe
nacht ist zweimal gestorben - was kann sie noch hoffen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 2. April 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,28]

Der sich rächende schmetterling

der schmetterling, den du vergiftet, hat ein menschliches antlitz
düstere pechschwarze flügel - haben gewiß ein gedächtnis
erinnern an - die weibliche verrücktheit, als er zuletzt zu dir tauchte

haß - sieht sich als blume
in den mißverständnissen eines glänzenden morgens
eine schwarze puderquaste - pudert den protzigen raum, der voll eines alptraums
wieder wartet der schmetterling an der wand, die anzuschau’n du angst hast

von deiner hand zerfetzt - findet er dich
verwandelt in einen schatten - auffällig umgeben von der stimme des windes
ein winziger mund, der dich nach dem tode beißt

gewiß gehört er jemandem - fällt rückwärts ein in den grünen himmel
je mehr du vergessen willst, desto mehr siehst du den schmetterling sich rächen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 26. März 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,27]

Glasbläser

von der zeit zerschnitten zu werden, ist einzige wonne
du wartest dein leben lang - auf das langsame wachsen von glasnägeln
in einen ozean getauchte glaswurzeln

die dunkelheit - wie alterndes blau
ein kind - berührt den tod in seinem gesicht
das unberührbare licht in einem meisterwerk
füllt das fläschchen eines vogels mit dem wasser von vier jahreszeiten

so zerbrechlich
wen die vergangenheit geformt, der springt in das, was gefroren - was behauptet ist

glasliebe - läßt den ozean schwach sich kräuseln
klingelnde glocken, eingebaut in dieses vogelnest
all dein schlimmstes - ist nur ein tag
heute ist, was vom unwandelbaren sturm als gestorben bekräftigt wird
ist, was keine zersetzung fürchtet - hält die augen fest geschlossen im sonnenlicht

[Wo das Meer stillsteht 4,26] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,28]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Samstag, 18. März 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,26]

Rückschau

ein weißes wolfsrudel von vögeln läuft wie irr über den schnee
mondlicht – in einem ruhigen Getöse
der himmel nimmt die maske des himmels ab

sternbilder – explodieren in baumwipfelhöhe
flüssigkeiten laufen auf tragische weise aus
ein brunnen der leben versteckt

ein dorn, dessen schmerz länger als der herbst dauert
schaut auf einen dunklen schirm
erinnere dich – das grab ist senkrecht versunken so wie heute abend

[Wo das Meer stillsteht 4,25] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,27]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Samstag, 11. März 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,25]

Andere, die nicht sind

sprache – stirbt in behauptungen
der purpurkristallene ozean stirbt in einem see anderswo
eine im klang der morgendlichen übelkeit gestapelte welt
erinnert den embryo – an einen blauen himmel und an zahnschmerz

atmen – präzise wie der zeitzünder einer bombe

das gold eines nachmittags löst sich im fenster eines museums auf
der zentrale platz des todes – stirbt in deinem auge
das dem schnee zusieht, der unberührbar fällt
winter fällt – was nicht ist, wurde, was es alle tage ist
eine wüste vergeltung der unwissenden körpertemperatur

der ozean – tritt jeden tag wieder als weißer knochen in die brust
jeden tag erinnerst du dich sinnlos an eine realität

streiche ein wort aus – ein baum stirbt an der adresse des windes
der kopf des embryos ist nach dem tod nur noch grün
was bleibt, ist gelächter – die deutlichen abstufungen der verwesung zu beleuchten

du näherst dich einer mitte – in der richtung, die nicht ist
das meer ist ebenfalls unberührbar – schnee, der anderswo bedeckt
bedeckt plötzlich überall

kein vogel, der je in so alte blutflecken getauchte wäre

[Wo das Meer stillsteht 4,24] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,26]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Montag, 6. März 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,24]

Der süden

der ozean benutzt die stärke einer jeden gebärmutter-kontraktion
um den ozean zu leugnen – der stechende schmerz lebendig gebratener fische
den tod zu leugnen, ist nichts als nichtig
die blauen bücher auf dem kopf – von blinden geleugnet
sonnenlicht beleuchtet das geschlecht der jungen reiterin
doch dunkelgrüne beine am strand verbreiten gerüchte

wenn der zwölfmonatssommer dich nicht leugnet, haßt er dich
reicht dein ganzes leben – diesen einen tag zu leugnen?

ein in deinen lebenslauf eingefügter tisch
macht dich unfähig, dieser grausamen hitze zu entfliehen
eine zartgesottene leiche – prallt weiterhin mit deiner nacht zusammen
schweißtriefende wolken tränken das wörterbuch
sich an der luft zersetzender aufgeblähter fisch – geschrieben von ungeschriebenem
auf die seite unter deinem fuß, die du niemals erreichst
wieder einmal geleugnet durchs auffliegen

je mangelhafter das brüten – freudiger – desto leichter wird es zerstört

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 1. März 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,23]

Der norden

felder fahren schlitten – gleiten still in die vergangenheit
die straße – bestätigt lediglich, daß der himmel zerbröckelt
wie das verbrauchte weiß hinter jedem buchstaben

zeit – bloßgelegt
bei null grad – verprügelt blaßrotes dickicht den eifer des frühlings

ein fenster läuft schneller als ein hase
du wirst abgelenkt – gestopft in einen körper aus geschorenem hasenfell
die ohren hochgestellt von weißen fußstapfen
licht – festgenagelt in richtung kälte
eine so vorzügliche krankheit, das sie den menschen unbekannt
du siehst nicht – daß auch die organe des hasen den horizont verbergen
entzündung – gelächter
verschwinden gänzlich im unwandelbaren schnee

falls es erinnerung gibt
bist du vollkommener, wenn du abgeschnitten wirst

[Wo das Meer stillsteht 4,22] <<>> [Wo das Meer stillsteht 4,24]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 23. Februar 2006

[Wo das Meer stillsteht 4,22]

Was zu ende ging

dieses gedicht, das den tiger stört – muß enden auf
einem tisch, der dem ellbogen entflieht
der sturm der worte war stets ein lebewohl

erde – bewegt sich immer unter einem beweglichen roten streifen
eines jeden tages weißer baumstamm verliert die fleischigen blätter
mit den knien spürst du den tiger
der durch dich hindurchgeht – und die sterne in den bauch der dunkelheit schlingt

ein schädel, der nicht schweben kann – bringt vögel zur geltung
ein am seegrund ertrunkenes kind – bereichert den in mondlicht getauchten hintergrund
erneuert wird lediglich der schlaf
schlaf unterwegs – winzige purpurorgane träumen von eichhörnchen
schlaf außerhalb des körpers – läßt den körper immer wieder an seiner stelle
lerne, ein boshafterer gott zu sein
marschiere weiter ohne tod – kein ende ist das letzte ende

o, tiger sammelnder stein
glaubst, du bewegtest dich wirklich
aber ist es nicht geblendete lähmung bei
jedem schritt, den du zu erdichten gezwungen?

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