wo das meer stillsteht

Dienstag, 17. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,13]

Trüber sommer

wenn’s dem grün      an kraft mangelt, sich tiefer in die haut des patienten zu saugen
dann ist der sommer notwendigerweise trübe

jeder regentropfen ist bereits fünfmal gefallen
der schwere sumpf auf dem dach zehnmal gewellt und angehoben
die felder      eine matratze ohne wäscheleinen zum trocknen
trockengelegt in deinen gedanken
die in die kiefernnadeln eingravierte geduld kehrt licht unendlich um
es wütet der tote, weil er keine risse im schlamm finden kann

im trüben sommer      bist du genug geschwächt
einen letzten sturm zu erfinden

samen zu splittern und den glasbaum im samen
eier zu splittern und den im gedärm bewahrten schrei
doch worte lassen sich nicht splittern      jedes wort
ein hölzerner haken aus fleisch und blut
ein irriger himmel hundertmal ausgegraben aus einem fötus

stimmt      dieser sommer ist dein sommer
auf dem roten bahnsteig gibt’s nur eine erklärung für das, was unsterblich
der rostige zug darf nicht ankommen
du wirst tausendmal belagert von der luft, welche die toten ausgeatmet
lungen      ein bunt glänzender fluß
der nicht fließt      keine luftlöcher im gestein aus fleisch
jede geschichte endete zweitausendmal

dort, wo du hinstarrst      dort      tränen      wieder

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 15. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,12]

Der turm des komponisten

3

die tür knallt zu      und die wut des inquisitors wandelt sich
ein vater rechtfertigt sich leise      überhaupt nicht wie ein vater

da ist ein elf jahre altes ohr im turm
von all seinen jahren an die wand geklebt

lauscht die ganze zeit      wie klang in klang hinstirbt
so wie schweigen      einen stein gehäuften schweigens schafft

ein kind steht oben auf dem hohen turm
verschlingt das böse, das dunkle sterne in seine hand stopfen

der sturm stopft einen schweigenden magen voll
an diesem junimorgen      und zieht dich zurück in des verrückten vergangene nacht

den letzten pfiff hinschreibend
wird der turm mit seiner alternden haut      leicht hinweggeblasen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 12. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,11]

Der turm des komponisten

2

die einzige schlacht ist die zwischen klang und schweigen
du hörst die leiche den deckel öffnen und sich durch das erdreich arbeiten

der letzte tag ist endlich zu einem blassen brief gelangt
verzögerte zeit, grad genug, um zu vergessen

deklamierend im ungewohnten tonfall eines blutroten vogels
werden die toten erweckt und erliegen erneut dem tod

du erliegst      einem leben auf der seite einer partitur
wie ein strandräuber      den die zusammengebissenen zähne der tauben geschulmeistert

schreiben      das auf dem gesicht wachsende gras folgt dem strom des winters
das fleisch kehrt unsichtbar zurück

fleisch      das sich in der komposition verliert      das jetzt noch weiter gegangen
so wie es – das licht verneinend – von note zu note sich bewegt

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Dienstag, 10. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,10]

Der turm des komponisten

1

die richtung der holzbrücke ist die faule richtung toter fische
regen      schwarz gefärbt von einem silbersee

stein      so zerfallen, daß wurzeln ihn greifen
haßwurzel, so daß efeu fleisch durchdringt

spei aus den regenklang      sommer wie angeschimmeltes fell
vogelsang stürzt sich in die hungrige ohrenfalle

hören      ward zu einer bresche im morgendämmer
alles, was im turm eingegraben, klingt hinaus in die musik

der aufgedunsene kopf eines verrückten taucht auf an der oberfläche
läßt den himmel wieder und wieder auseinanderfallen      rüttelt rasend die letzte nacht

doch nie wieder wird die letzte nacht vorübergeh’n      du
ganz umgeben von trüben fenstern, die sich nur den schmerzen einer person öffnen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 8. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,9]

Nachbarn V

unser fleisch mauerte die fensterbank
aus der flamme      wir sehen zu, wie ein holzklotz feuer fängt
wie ein aufgerolltes handgelenk
zerrt      zittert      plötzlich wildtierkrallen ausfährt

flamme und flamme in einem spiegel geschmiedet
lassen alles, was tief in quecksilber versunken
vom blick auskratzen      wir stehen außerhalb unserer fenster

schnitz aus ein gesicht mit einem meißel des nichtseins
scharf geschliffenes gesicht      sich erhebende zunge in einer gemeißelten vase
so wie der klang des windes sich in der kehle vervielfacht      packt eine unart
den dichter      wie eine verbrauchte nachgeburt      von einem gedicht abgestoßen wird

die roten eisenpforten der erde sind unserem ohr immer schetternd verschlossen
grabsteine      berühmter als wir
üppiges leichengelage
die an beiden seiten eines jahrhunderts enthüllten augen sind zwillinge
sind sie außer sich      schreiben sie nichts nieder
werden nur dann aus dem geschnitzt, was in unseren herzen starb

nur dann führen sie selbstgespräche      nur dann fürchten sie die kälte
ergreifen die karten mit flammen- und wildtierkrallen      eine spielkarte
trennt zwei wunden      die sich anschauen      uns

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 5. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,8]

Nachbarn IV

dem tod am nächsten ist das gedicht eines lebenden
ein mögliches grab, versteckt im himmel
wie eine unmögliche dachkammer      eingesperrt im staub
spinnen- oder fliegenleichen
geschnitzte schachteln, entworfen für geisterhaftes leben
bis meine hand      sich öffnend fingerabdrücke hinterläßt
mäuse auf der treppe, getreten und wieder zu sich gekommen

vor hundert jahren gewecktes licht
quiekt und      schneidet des dichters wahnsinnsschatten ab
eine wolke steht auf den schieferplatten
pflegt sich in grau-weiße knöchel zu zersetzen
eine einzige deklamation in nächster nähe zu den lebenden
die wie reliquien zufällig meine finger durchstöbert
zeigte      die scham, die wir alle spüren sollten

[Wo das Meer stillsteht 2,7] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,9]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Montag, 2. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,7]

Nachbarn III

vergessen zu sein ist ein glück      sagt sie
laß diejenigen, die keine müdigkeit kennen, das erinnern lernen

jede frau beginnt damit, ihren körper zu berühren
sagt sie      jedes dunkle wissen stimmt mit korruption überein

blut      zündet die letzte kerze an
dann beginnt der purpurne nachthimmel, wunden zu spinnen

eine made gräbt einen tunnel und verbirgt einen winzigen tod
in der falle gefangenen überwinternden tod

eine tote frau      gleich einem ungelesenen autor
geht treppab schwanger mit einem geheimen kind

engel      fledermäuse mit welken zitzen      ziehen die flügel ein
hängen kopfunter herab von der schneeweißen haut

sagt sie      die mörderhand ist es müde, hilfe zu reichen
langeweile ist das einzige bett

auf dem kleinen see kommen und gehen die wasserschlangen
sie steht am ufer      ist mondlicht, das sich nichts angeht

wenn eine mondfinsternis fleisch berührt, sickert schwarzer sumpf hervor
so wandelt sich eine frau in etwas anderes

[Wo das Meer stillsteht 2,6] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,8]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 28. April 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,6]

Nachbarn II

                                   in einer anderen zeit
rammt schweres himmelblau      vögel in den lehm
zwielicht als fleißige säge an den ästen
tragisches lächeln der baumstümpfe      eine kraftlose rache

                                   in einer zeit, die uns trennt
drückt ein skelettförmiger tisch sich fest an einen anderen
die toten, die niemals fortgegangen
wie lampen      bersten still in den kiefernzapfen
erschüttern der fledermäuse flaumige pechschwarze ohren

                                   in einem anderen augenblick
sind wir noch das stille unfertige werk
eingerammt in den lehm von jeglicher stimme      zurückgelassen
ein ein-wort-heute zu sein
eine berühmte sprache, die einst über antikes porzellan kroch

[Wo das Meer stillsteht 2,5] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,7]

Montag, 25. April 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,5]

Nachbarn I

ein köstlicher tod kocht nebenan in deinem topf
in des nachbars kamin
ein kiefernscheit brennt in aller ruhe hundert jahre

immer schwermütig der sommer      wie mauern, die efeu stützen
noch führt die straße durch feuer an winters ende

aus dem feuer heraus sieht man      fenster
trübe nächte sauberwaschen, eine nach der andern
außerhalb des fensters die ausgeschnittenen eisenschatten der kiefern
korrigieren eure skelette

eine grüne sonne platzt in steine, ohne anzuklopfen
die tückische szenerie, wenn ein wort in zwei gedichte platzt
bestätigt      des dichters verrenkten mund
du siehst aus wie zusammengegrillte fische

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Freitag, 22. April 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,4]

Arche

immer sankst du in gewässern, die längt vorübergeflossen
so wie das unwandelbare schweigen des waldes
die axt geschärft hat
schwarz gewordene zehen von baumstümpfen gehen überall herum
das geräusch fallender kiefernzapfen      erklärt den sommer
kiefernnadeln bedecken einen feuerroten pfad
gehirn      nur gehirn hinterläßt einschiffungsnarben

ist ein im feuer sich spaltender felsen
ist ein auge, das auf einen großbrand schaut      frierend das ganze jahr
vom gedächtnis wiederbelebter weißer schnee
ist die schneide der axt, zwischen den zeilen gen himmel geschwungen
grün vergeudend      baum, grausam wie ein anderer baum
handhabt den schlaf      eine flut von spechten

wirft gnadenlos schnarchen aus dem augenblick
wirft es in      die ins fleisch verpflanzte pest
grüne gräser, die die vergangenheit ausrufen      entblößen untertage-zähne
schreien      arglistig überhört von hölzernen ohren

des verrückten einziger fehler in der totenstille der zelle
ist es, immer zu wachen      erst gestern weckte er
einen zweig der vergangenheit      auslotend des seegrunds fahle phosphoreszenz
und benutzt vögel, um die gedichte zu rezitieren, die in euren mündern schimmeln

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