wo das meer stillsteht

Mittwoch, 22. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,23]

Biographie

5. Pause & intermezzo

sonnige tage beginnen immer im meer
beginnen im stetigen weiß – beginnen im lügen

immer erinnern wir uns schlecht an die zeit – bis
wir einen toten garten beschneiden und dabei rosen pflücken
in der sonne – rote und weiße makrogehirne
auf der jagd nach der unordentlichen handschrift in einem tagebuch

wie erinneren uns schlecht – an die salzigen gerüche des seewinds tag für tag
da wir körper ohne adresse sind
statisch bewegungslos das blau – blendet erst, nachdem die erinnerungen herausgegeben

einmal eingeäschert – geht das aschenleben weiter
rosen beschneiden, bis der garten aufs meer verlegt ist
einen augenblick überfluten, den niemand gelebt
mit piktographischer sensibilität und piktographischer gleichgültigkeit

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 19. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,22]

Biographie

4. Was ungelesen ist

ameisen wissen, wie man über das gesicht auf dem foto klettert
ameisen – gehen auf weit offenen augen
und treten auf schwarz oder fleischfarbene worte

geschmeidig – wagen sie nicht einmal, dicht aufzuschließen
ameisensäure gilbt den nachmittag – breitet sich aus

die innereien einer toten katze sammeln fliegen um sich
laut schreien, draußen vorm fenster, von den kiefern herabhängend, vögel

wer auch immer nicht liest – hört
die federspitze eines sturms dicht am papier rascheln
über dich hinweg – und die jahreszeiten auf deinem gesicht
augäpfel – wie schnee, der in eine augenhöhle einbricht
zählen eins nach dem andern die fallenden beine der ameisen

alles fällt hinein – in die vollkommene vorstellung des todes

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 15. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,21]

Biographie

3. Was nicht gelesen wurde

geträumt zu werden, ist manchmal gefährlicher als zu träumen
was sich unter der haut windet, ist ein tropfen bluts, nicht ein wort
gestrige wunden können nicht stinken
diese grelle überspanntheit, die rote schmetterlingsexemplare hervorbringt
ein zwielicht nach dem andern benutzt dich, die leerstellen zu füllen
das kleine eisenbett rast kreischend durch das schlafzimmer
du bist außer dir durch deinen alptraum
wie das ende eines stromkabels – eine
glasträne kann nicht weinen

in einem anderen sommer sind die leser trüber als du
grad so, wie deine autoren
dich küssen – verfault deine zunge und wird grün
dich aufschrecken – hast du weder rache – noch heim
der gestrige patient, zersägt von eines buches silberzähnen
von dir fort getrieben durch einen gußeisernen namen
denn der himmel hat diese seite umgewendet

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 12. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,20]

Biographie

2. Was gelesen wurde

wenn du mit höflicher verachtung
die landschaft verfluchst – wirst du dort zu einem schwan
das wasser der vergangenheit fließt unaufhörlich – deine panik
besiegt dich immer noch mühelos, wie schlechtes wetter

immer noch zeit des stillstands
eine platte aus stein in einer düsteren ecke des friedhofs
breitet das letzte antlitz aus, die wangenknochen zertrampelt von einem stiefelabsatz

im regen fährt ein roter bus zu seiner endstation
ein gedicht – jeden tag geschrieben bis zu seiner endstation
ist nicht du, nur deine verrücktheit
keine hände – nur ein vom spiegel bestellter schirm
zeuge, wie der dichter von der schreibmaschine korrigiert den ausdruck betritt
so nah, daß ihm die unterwäsche von der biographie ausgezogen wird
ein leben, übergeben der dreistündigen folter eines anderen

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Donnerstag, 9. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,19]

Biographie

1. Was gelesen wird

so wie sie wachsen atmen die kiefern auf einem chinesischen friedhof
doch ruhig ändert der wind die richtung des tages
der pflug in seinem auf und ab gelangt ans ende des ackers
grün – ein fruchtbares august-buch
leben sät todessaat

nacht – sterne ziehen dahin in einem brunnen aus jade

den ganzen sommer lang liest du eine biographie
kiefernschatten in wasser getaucht
eingraviert in ein basrelief ein stuhl voller wasser
die ferne see wütet immer noch allein
vogelsang *) überschwemmt den himmel als wäre dort kein sang
du liest als hättest du nichts gelesen

da ist nur die kunst, die einen nachmittag ins schwanken bringt und schwärzt

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

*) arne vogelsangs weblog

Montag, 6. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,18]

Gefängnisinsel

das licht baut seinen tempel säule um säule
das licht graviert wörter in das träge braune gestein und liest am ufer des meeres
der mai ist ein hotelbett
der morgen reitet einen hellblauen, an träumen klebenden körper
den man im dunkeln geweckt
das breite blatt des meeres balanciert auf einem weinglas
ein tag geleitet dich in ein körnchen lebendigen kristalls

die inseln, die du nie erreicht
und die du nie verlassen

der pechschwarze sturm ist ein segelschiff
immer noch beklagen sich die gefangenen tränenreich in der brandung – heimwehkrank
stellen sich einen pflug vor, von ihren körpern gezogen
stellen sich körper wie körperlose vögel vor
wenn du ausgetrunken bist, kommt die flut
und achtest dein leben lang auf das versiegen deines ozeans

sickert unbarmherzig in deinen körper

das weiße maipferd sickert in die trunkenheit
galoppiert um dich herum und öffnet den grünen aufstieg und fall der haut
augen, die über gefängnisinseln hinausschauen, sind selber gefängnisse
das licht peinigt einen tunnel am grunde des meeres
hohles inselchen, dich bläht von innen
schmerz – ist unlöschbare lampe
noch mehr schmerz – das meer schießt hinter dem morgen hervor
noch ein tag schießt tief hinab in eine fatale richtung

das ende ist lang und mühselig
das ende selbst hat keins

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Freitag, 3. Juni 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,17]

Leben eines porträts

dieses gefängnis ahmt alle eure stillen körper nach
die in einer biographie ausgelassenen nebenrollen
leben nur      ihre verurteilung abzubüßen

auszusetzen wieder die abgetrennten köpfe
auf der kleinen, tag für tag zugeteilten klippe
köpfe, die aus dem rahmen der dämmerung schlüpfen

alle mit abgebissenen zungen
wie eine familie      die im regen schwarz wird
in flügeln aus beton eingelegtes laub grünt blatt für blatt

der schrille schrei getretener mäuse oder schlangen
ist sicher rot      läßt mitternacht pünktlich in dich eintreten
erklärt das längerwerden des weißen leeren blicks

niemand kehrt zurück nach dem tod, sich selbst fortzunehmen
und niemand      wagt es, sich zu betrachten
das bad zu durchqueren und in einen anderen unerträglichen morgen zu schreiten

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 29. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,16]

Gewalt im wald

an gebrochenen hälsen verknotet      zieht der himmel den kragen hoch
noch wüten schlachtrufe      der himmel hat begonnen, fleisch zu essen
wälder senken ihre köpfe      und der himmel lacht in weiter ferne
baumstümpfe stapeln sich      der himmel hat vergessen

das ist die gewalt, die du jeden tag siehst

grüne füße laufen herdenweis’
dem tode zu in einem schweigen, das immer tödlicher wird
hören den himmel      zufrieden füllen sie die erde hinter sich

gewitter      verwandelt dich in ein durchweichtes hackbrett
wie süß dem ohr ein messer, das auf den rücken einhackt
die grammophonnadel des sonnenlichts kratzt auf den jahresringen      nie werden sie wieder kreischen
baumstämme       erreichten mit mühe die wahrheit ihrer verwendung

das ist alltägliche gewalt

himmel      fällt den wald, denn er wird menschlich
denn menschen bluten nicht jeden tag
grad so wie du      in frieden und ruhe      deinen endlosen tick genießt

das ist alltag

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Mittwoch, 25. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,15]

Fröstelndes portrait

kälte kommt in jeder jahreszeit      wie die wand hinter dir
kiefern enthalten immer einen schneetag
die flamme im herd kann so grün werden, daß sie schwarz wird
wenn feuer wirklich wird      kann die kälte sich nicht verstecken
du hast angst      um so mehr ähnelst
du dem, der immer mit dir verwechselt wird

wenn jemand anders      dich unterbringt, riechst du nach medizin
im schal, den der himmel überwacht, gibt es nur regnerische nächte
portraits gehen durch die tür      aber du hängst
an der wand      ein gemaltes gesicht lerntest du erst      nach dem tode fürchten

auch das sonnenlicht wird verwechselt      es ähnelt nur dem licht
fingert im reglosen wind so wie finger, die geringfügig zucken
auch ein spiegel ist wie ein verrückter
ein weißäugiger schwachsinn      ein ozean, der sich nie an toten fisch erinnert
wie der winter      dir dick ins auge spuckt
wenn der körper friert      ist lächeln ein müder rock
lügen      nur dann wieder ausgesprochen, wenn sie dich wärmen
lassen die kälte bis zu den knochen dringen      grausam wie dieses portrait

kälte ist eine metapher      angst vor kälte eine andere
jahrhundertealter vogel, der anderswo schreit
bild eines braunen ohrs, abgefroren vom kopf einer leiche
gräßlich wie dein eigenes
taub genug, um      erkannt      oder gemalt zu werden

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Freitag, 20. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,14]

Stein auf der fensterbank

stein auf der fensterbank sieht zum fenster hinaus
läßt das ganze zimmer sich zum abhang neigen
in versunkenen schiffen lebender fisch      bereit, zu gräten zu faulen
von der axt zerhackte musik
bäume, immer noch beschäftigt mit grünen fünf-finger-übungen
regenguß, der immer innehält am fenster
benutzt sein innehalten, sich ins zimmer zu schleichen
schleicht sich ein in dich wie der gleichgültige schimmer des steins
ein ganzer ozean neigt sich seinem anfang zu
während du überwacht wirst, kletterst du in ein weichtier
ahnungslos geformt wie eine leiche
die jederzeit von einer krähe angepickt werden könnte
das glas vergrößert die drohung, ohne zu sprechen
ein grauer augapfel starrt dein gesicht an      und ignoriert dich

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

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