wo das meer stillsteht

Samstag, 16. April 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,3]

Haus als schatten

das ist dein haus      ein haus als schatten
ein gebäude auf einem rasen weitet das zwielicht
vogelsang herabgeschossen vom himmel      zarte laubzungen
diskutieren abermals den erschöpften sturm
erschöpft auch die schatten      blinde in reih und glied
fallen verblüfft über den steilhang

das ist dein haus      haus ohne dich
du wirst geschuldet wie des alptraums schulden
eine maus springt zu boden, erkrankt und gleitet
maus als schatten
schwärzer und schwärzer das gesicht
mund rosenrot      beißt auf die pforte der elegie
beim sterben des tages begibst du dich in eine modernde kerze

wie vier wände, die tonlos leben nachahmen
schlängelt licht      sich unter die erde, rittlings auf zerbrechlichstem stein
schlängelt sich in dich      ein eigentümer als schatten
öffnet hitzig den balkon der nacht      beschaut die kulisse
noch eine wildkatze auf der jagd nach ihrer angst
noch ein schädel      findet sein ende, angenagelt an die sterne
ein unkraut-ähnliches silberweiß
gelähmte dunkeltürme steil aufrecht wie ein prägestempel
löschen das ein jahr alte du, das eines tages alt werden wird
wie schreckliches mondlicht      dies leere land löschen wird

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Donnerstag, 31. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,2]

Mondfinsternis

ein rinnsal süßen blutes tröpfelt in deinen mund
giftiges blut das gerne du trinkst
schlammige zitzen      blaues marmeladentröpfeln

die zarteste der hände tränkte das papier
deines fleisches      mit wasser
diesem unreinen tod den du gerne trinkst

dieses klatschen      das jahrelang schleichendes fütterte
augenblick der auf dich wartet dich zu beschmutzen
wacht über deinen spott

zwei stunden      mädchen sitzen im gras
und streicheln einander liebevoll      nehmen sich freiheiten
lernen unreine gedichte auswendig

in röcken      öffnen schlösser die schlüssel des schattens
licht von skeletten geben sterbenskranke strahlen von sich
so wie der ganze himmel schluchzer widerhallt

nacht die du gerne trinkst      trinkt dich
eine im stich gelassene frau trinkt ihre milch aus
dunkelheit      springt in den dunklen pfuhl

zu zeugen vom schoß      dies weißliche glas
wird schmutziger mit jedem waschen
zwei stunden später      geht’s weiter mit der lebenslüge

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Mittwoch, 30. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,1]

2. HAUS ALS SCHATTEN

Die behauptung der krähe


jeder morgen stirbt einmal mehr in der sprache der krähen
krähen benutzen dunkelheit      um licht zu entfalten
grüne gräber      zertreten zertrampelt
tiefe wälder zeigen konturen
das fleisch der toten wird fett in den fichten
doch dünne durchsichtige ohren      hängen bei nacht von allen zweigen
schweigen nach dem tod      läßt dich hochfahren aus dem schlaf

tote      hören erst jetzt im häßlichen hirn
wie denken den sturm erntet
hirn das unweigerlich in schlafzimmer lugt und lacht
arrogant wie ein kahlgeschorerer gefängniswärter
krähe      eingehüllt in geborgter nachtlivree
nackter noch

gold auf den buchstaben des sommers
kleine unreife hände gehen langsam übers gras
reißen nach und nach die fingernägel aus
deine lehrbücher in träumen gedruckt
unterwiesen im schlaf      schwimmen
in gefiederter haut      hören den fluß
eine höhle graben in den körper heller als licht

aufgeschreckt erneut in ein lautes krächzen      dessen was nicht gehört werden kann

[Wo das Meer stillsteht 1,7] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,2]

Dienstag, 29. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,7]

Dunkelheiten
4


aber die dunkelheit hat nichts gesagt      zwischen dunklem und dunklem
nur dieser frühling

die knochen des papierdrachens hängen in den baumwipfeln
die borke glänzt      liebende gehen küssend unter dem baum vorbei
pollen in den lungen schlagen den gong des letzten jahres
ein lebhaft roter clown      macht stets die kinder wild

grüner und grüner die zähne die kleine hände kauen
rasen aus alten zeitungen      reicht eine flammenschere herüber
so sieht der April      den fluß fließen als trugbild
die vergessenen farben der strömung      sehen uns als trugbilder
ist der ruf der taube einmal schwarzgebrannt      sind alle sterne
zerbrochenes spielzeug – hineingestopft in eine pechschwarze schleuse

in der dunkelheit gibt es immer einen körper der zurückdriftet an den ort des nicht-träumens
selbst wir haben angst      haben angst nur vor unserem eigenen entsetzen
die dunkelheit sagt nichts      jeder fußgänger auf der straße
beginnt mit sich selbst zu murmeln
dunkelheit      lauscht der orangeroten dunkelheit des lippenstifts

eine frühlingsschule läßt uns immer dumm werden
erinnerung      die darin lebt ist ein geist
wird ein spiegel zum gesicht gehoben      verdaut der ozean einen toten fisch
um erbrochen zu werden ist´s noch ein endloses geschwätz

zu viele der dunkelheiten      daß das leben sie je einmal erreichte
der frühling geht fort von uns      nur dann      schweigt endlich der frühling

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Samstag, 26. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,6]

Dunkelheiten
3


jeder regenschauer läßt dich an deinem ende niedersitzen
regen klopft aufs dach      die schritte kleiner tiere
bringen dich reglos in die dunkelheit
bei reglosem wetter brauchst du andere zum schlafen
schlafen heißt fortgehen      die welt der regenzeit geht fort
sobald die dunkelheit durch dich hindurchging wie ein vollblut durchs feuer
höre in dich hinein      überall silbrig weiße nähte
die einen abgetragenen anorak aus fleisch vernähen

jeder schauer fällt nur auf diesen öden grund
wenn du von deinem ende anfängst zu lesen      dann ersetzt unermüdlich
eine schwarze seite mit erklärungen jemanden für den nächsten tag
schmiedet eine adresse      die straße zum friedhof noch schlammiger
nörgelt mit dieser hand      bettler drängen sich in gegenseitigem haß
bilden eine stadt und nirgends ein schutzdach bei regen
ein schwarm durchnäßter krähen prallt in dir zusammen
brüten unterschiedliche verbrechen deren gesichter sich gleich      würde die dunkelheit sagen

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Samstag, 19. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,5]

Dunkelheiten

2

eine geschichtenlose person     entflieht in den tag
mit der geste eines, der dem tag entflieht

eine vergangenheitslose person     passierte
möwen, am abend dann eingearbeitet in ein abstraktes buch

eingesperrt in isolationshaft     wer nicht verrückt
täuschungen     eher splitter als fleisch

glassplitter     zersplitterndes skelett - gehört am stadtrand
splitter einer verwesenden zunge     zwielicht wäscht fort, wäscht einfach fort

ratten quieken     schrilles quieken als zertrampelte das licht sich selbst
jeder tag von jedem tag wach geschreckt

mit einer schwarzen nacht     eine personenlose geschichte
würde selbst zweimal erzählt nicht wahr     würde die dunkelheit sagen

[Wo das Meer stillsteht 1,4] <<>> [Wo das Meer stillsteht 1,6]

Donnerstag, 17. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,4]

Dunkelheiten

1

immer wird vergessen das grüne laub wenn     die fenster zu grün
wie jeder im frühling geschmissene kieselstein
treffen sie den frühling selbst

vögel     tragen noch dürre schlittschuhe von blauer farbe
wenngleich des alten hundes augen müde sind

das schwappen des flußufers muß nicht übersetzt werden
die ästhetik des todes     wiegelt das ausschwärmen der blumen

nur die felder     dulden das rasende herz
weiter noch fliehend     wittert blut der april
im sonnenlicht duckt sich der wald hinter uns
wissen das nicht fortgebracht werden kann     bringt wieder fort - die toten
ein gedicht aufsagen     eine vertiefte stille

die andere welt ist immer noch diese welt     würde die dunkelheit sagen

[Wo das Meer stillsteht 1,3] <<>> [Wo das Meer stillsteht 1,5]

Mittwoch, 16. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,3]

Requiem, oder zurückfließender fluß

keine nicht in liebe zerstörte liebe
wie im himmel gelähmter himmel
requiem     gespielt für taub gewordene ohren      genug

im schimmernden sopran der steine
fließt jeder fluß wirklich zurück
zurück vom vogelgesang     bäume blasser als der morgen
zurück vom lachen     die von mutter gesammelte frühlingsschachtel
zu gegebener zeit aufgerissen von versessenen kindern

du mußt noch dorthin zurück, wo du immer bliebst

requiem     achtungsvoll hört zu der tod
jemand singt     und geist legt fleisch an      wieder und wieder aufgegeben
zähne strahlen jenseits fahlgelben mondlichts
erinnerung     stillstand im stillstand
ist der himmel der tiefe der musik

bis alle namen tod entziffern
und der tod mit musikinstrumenten spricht
flüsse, die aufgeben, um hilfe zu rufen     fließen zurück, dieses schweigen zu werden
fließen zurück in diesen augenblick     kinder klettern auf grüne bänke
holzpfähle zu blumen aufgeschwappt vom ozean dem kindermädchen
frühling     frühling sauber ausgerichtet
du bist schon gestorben     drum hast du keine angst zu lieben

[Wo das Meer stillsteht 1,2] <<>> [Wo das Meer stillsteht 1,4]

Dienstag, 15. März 2005

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[Wo das Meer stillsteht 1,2]

Träume oder eines jeden flusses drittes ufer

grün ist das grausamste bajonett
doch ein traum     hängt sich wie ein verbrechen fest an gesternfelder
festgehängt in den holzstühlen der fichtenbäume
haben die toten wieder die schule begonnen

wer träumt     muß
dem frühling folgen und in diesen fluß münden
dem fluß folgen     ans dritte ufer schwappen zwischen weißen knochen

diese weiße liebe ist weder dasein noch phantasie
drängt jedoch die tagtäglichen rosen in die gefahrenzone
schickt dich durch ein großes feuer zurück in deine vergangenheit
in der kindheit gespielte melodien werden mit jedem hören qualvoller
eine durch dunkelheit frisch gehaltene wunde     wie ein zwielichtzimmer
auch eine aufs herz gepreßte hand wird widerhallen
leerer und leerer     und umgeben vom flußbett
nur in träumen mißgeschicke eingestehen     denen ein dichter nicht entgeht

es ist dein eig'nes mißgeschick
ein ganzes leben eine lange nacht mit offenen augen
das von dir geträumte land zerfällt und zerfällt unter deinen füßen
wenn es gesunken ins fleisch     tief ist's
wie die verdammung     niemand schläft oder wacht am dritten ufer

[Wo das Meer stillsteht 1,1] <<>> [Wo das Meer stillsteht 1,3]

Sonntag, 13. März 2005

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YANG LIAN

WO DAS MEER STILLSTEHT

Dt. von mir nach der englischen Übersetzung aus dem Chinesischen von Brian Holton und der davon gefertigten italienischen Übersetzung von Claudio Pozzana, damit ich mir gleich denen, die in den Museen die Gemälde in den Zeichenblock skizzieren, der auf ihren Knien ruht, besser die Bilder zu eigen machen kann, die darin enthalten.*)

1. DUNKELHEITEN

Frühling, eines flusses schmerz
in deiner liebe

eines vogels helle angst in deinem starren blick
eines flusses schmerz in deiner liebe

ein zersplitterter tag     hält dich davon ab, dieses
von schneeweißem eis hochgetürmte flußbett in einem
blickfeld zu umgehen, in dem dicht die notizhefte sprießen
jeder baum schlägt dir entgegen
wie die wunden der nebenflüsse eines gedichts

in einem tropfen wasser     die toten allüberall
draußen vorm fenster     je heller das sonn'licht desto lebensechter das krebsgeschwür
ein junge verschwindet dort wo er fällt
ein körper hört     unerkannt das laute klagen des blutes

in dir weinende liebe     aus den fleischfarb'nen flügeln in der luft
ein hautloser fluß     schmerzt die ganze nacht hindurch
bedeckt mit deinem einen tag jedermanns gestern
barfuß die schatten im grase durchwatend

blumen lassen sich vormerken für künftige operationen
je mehr der frühling schwallt desto mehr gleicht er einem traumlosen menschen
wenn nichts gesagt wird     kein fluß kann von dir fort fließen

da ist nichts     als was du stets erduldet in dunklem mark
alles lebendige     hicke-di-hack      hicke-di-hack

das ist alles     wieder vorbei

 

*) Das entsprechende Buch erschien 2004 im Verlag Libri Schweiwiller (Mailand).
Übersetzungsrechte wurden nicht erworben. Sofern also diesbezüglich rechtliche Bedenken
geltend gemacht werden, bitte ich um Nachricht an hsch @ libero . it.



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[Wo das Meer stillsteht 1,2]

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