Donnerstag, 12. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,11]

Der turm des komponisten

2

die einzige schlacht ist die zwischen klang und schweigen
du hörst die leiche den deckel öffnen und sich durch das erdreich arbeiten

der letzte tag ist endlich zu einem blassen brief gelangt
verzögerte zeit, grad genug, um zu vergessen

deklamierend im ungewohnten tonfall eines blutroten vogels
werden die toten erweckt und erliegen erneut dem tod

du erliegst      einem leben auf der seite einer partitur
wie ein strandräuber      den die zusammengebissenen zähne der tauben geschulmeistert

schreiben      das auf dem gesicht wachsende gras folgt dem strom des winters
das fleisch kehrt unsichtbar zurück

fleisch      das sich in der komposition verliert      das jetzt noch weiter gegangen
so wie es – das licht verneinend – von note zu note sich bewegt

[Wo das Meer stillsteht 2,10] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,12]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

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Ein Buch ist keine Gurke.

Der neue italienische Kulturminister Rocco Buttiglione gestern auf der Turiner Buchmesse.

Mittwoch, 11. Mai 2005

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Er: hast du es gehört?
Ich: schon wieder strohsandalen!
Er: antwortete er.
Ich: zen-priester suchen nach flöhen, sobald die meditation beendet.
Er: nun hat er ein kind und kennt die namen aller dorfhunde.
Ich: das bild, das der führer nicht zu lesen versteht, das zeigt er nicht.
Er: auch die prostituierte ändert ihren namen, sobald das spiel zu öde wird.
Ich: die fingerlose nonne: du lächelst sie an, doch sie lächelt nur.
Er: ja, sie schnitt ihn sich ab, weil sie als prostituierte ein gelübde getan.
Ich: soll ich die tür noch länger aufhalten?
Er: warum so ungeduldig?
Ich: das haus wird dunkel!
Er: und ich der lichtbringer, der luzifer...
Ich: ja, zum teufel, so meinte ich das nicht.
Er: dann laß nur brav den hund vor der tür liegen und vertraue auf die elektrizität.

ein zynischer diener meinerseits überzeugte Ihn endlich. und, o wunder, diesmal kramte er aus seinen tiefen taschen zehn flaschen weißbier, denn - so seine worte - Er sei gerade aus niederbayern zurück, wolle hier nur kurz rast machen, um dann weiter nach rom zu pilgern. indes goß er vorsichtig sein weißbier ins weißbierglas, mein einziges, das ich ihm gastfreundlich angeboten hatte, ich selbst nuckelte an der flasche...

Er: gebenedeit seist du.
Ich: mit sechzehn darf man anfangen zu rauchen. ich tu's aber seit dem fünfzehnten.
Er: ich weiß. hast du mal eine für mich?
Ich: bedien Er sich. dein glück, daß ich kurz vorher im dorf war.
Er: wegen der hübschen jungen bedienung?
Ich: magari! nachdem er sein weib zu sehr gescholten, kocht er den reis.
Er: wenn der ostwind bläst, schickt mir euren duft, o pflaumenblüten, mag auch euer herr abwesend sein, vergeßt nicht den frühling.
Ich: komm schon, wir sind mitten im mai.
Er: also gut, deinen ohren zum tort: de-her mai-ist ge-kommen, die bäu-me schlaaaaaaaaaaaaaa-gen aus... zumzumzum.

ich fürchte, der abend wird noch lang...

...

komischer vogel
holt tsitschilp tsitschilp
ständig zwitschernd luft
haspele selbst nach luft
als würden mir wolken
den hals verstopfen

Dienstag, 10. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,10]

Der turm des komponisten

1

die richtung der holzbrücke ist die faule richtung toter fische
regen      schwarz gefärbt von einem silbersee

stein      so zerfallen, daß wurzeln ihn greifen
haßwurzel, so daß efeu fleisch durchdringt

spei aus den regenklang      sommer wie angeschimmeltes fell
vogelsang stürzt sich in die hungrige ohrenfalle

hören      ward zu einer bresche im morgendämmer
alles, was im turm eingegraben, klingt hinaus in die musik

der aufgedunsene kopf eines verrückten taucht auf an der oberfläche
läßt den himmel wieder und wieder auseinanderfallen      rüttelt rasend die letzte nacht

doch nie wieder wird die letzte nacht vorübergeh’n      du
ganz umgeben von trüben fenstern, die sich nur den schmerzen einer person öffnen

[Wo das Meer stillsteht 2,9] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,11]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

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der bildschirm wird schwarz : time out
(die als inaktivität und abwesenheit programmierte aktivität und anwesenheit im anderswo : d.h. auf dem schreibtisch wird das bildschirm-ich zurückgelassen : das sich ausschaltet : sobald wir unser wirkliches ich allzu lange spazierenführen („...zeigt andererseits den möglichen aufbau eines ‚falschen selbst’, der öffentlichen und privaten darstellung seiner selbst, die z.t. von seinen tatsächlichen bedürfnissen und wünschen abgetrennt ist...“ (wie wenn im mai sich ein „nie“-monat vervielfältigt im aberglauben 17 jahr’ blondes haar reiß ich mich um des teufels haare : sind nur drei (im 4mament 3ste 2stigkeiten 1deutig (heut’ häut’ich das gestern geborene morgen, damit nackend das morgige heute dem gestrigen heute eine weitere schicht seiner selbst von sich abtrennt (abtränt?))))))

Montag, 9. Mai 2005

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ameisen zerdrücken
mit dem finger
als könnte man
zu fuß gehend
die welt zertreten

...

Wann Einer ausgegangen ist,
So ist er nicht zu Haus


Adelbert von CHAMISSO, Sternschnuppe

Sonntag, 8. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,9]

Nachbarn V

unser fleisch mauerte die fensterbank
aus der flamme      wir sehen zu, wie ein holzklotz feuer fängt
wie ein aufgerolltes handgelenk
zerrt      zittert      plötzlich wildtierkrallen ausfährt

flamme und flamme in einem spiegel geschmiedet
lassen alles, was tief in quecksilber versunken
vom blick auskratzen      wir stehen außerhalb unserer fenster

schnitz aus ein gesicht mit einem meißel des nichtseins
scharf geschliffenes gesicht      sich erhebende zunge in einer gemeißelten vase
so wie der klang des windes sich in der kehle vervielfacht      packt eine unart
den dichter      wie eine verbrauchte nachgeburt      von einem gedicht abgestoßen wird

die roten eisenpforten der erde sind unserem ohr immer schetternd verschlossen
grabsteine      berühmter als wir
üppiges leichengelage
die an beiden seiten eines jahrhunderts enthüllten augen sind zwillinge
sind sie außer sich      schreiben sie nichts nieder
werden nur dann aus dem geschnitzt, was in unseren herzen starb

nur dann führen sie selbstgespräche      nur dann fürchten sie die kälte
ergreifen die karten mit flammen- und wildtierkrallen      eine spielkarte
trennt zwei wunden      die sich anschauen      uns

[Wo das Meer stillsteht 2,8] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,10]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Samstag, 7. Mai 2005

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aus dem flugzeug
in den tag gefallen
ohne fallschirm
lustgefühl ohne angst
nur der versuch
mir den aufprall
vorzustellen
ließ mich wach werden

Freitag, 6. Mai 2005

...

kreisende gedanken -
aber wann
das unglücksrad
anhalten?
nur die falsche zahl
bringt glück

und immer wieder
das erzeugen
von rorschach-bildern
aus der spiegelung der
wolken im kopf
an der schnittstelle
zwischen schein und sein

kreisende gedanken –
erneuter blick aus dem fenster
keine wolken mehr
nur noch blaue gedanken

...

maivegetation
alles ohne ausnahme kriecht hervor : aus knospen und samen : und nichts, daß sich : sorgte ums vergehen
als wäre das bloße vorhandensein : selbst schon die einzige chance : die es zu ergreifen gilt
vielleicht haben selbst wir nur diese eine chance : nämlich vorhanden zu sein : und alles andere führt zu korruption : zu ökonomischen kompromissen : zur preisgabe unserer selbst und unseres selbsts

Donnerstag, 5. Mai 2005

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[Wo das Meer stillsteht 2,8]

Nachbarn IV

dem tod am nächsten ist das gedicht eines lebenden
ein mögliches grab, versteckt im himmel
wie eine unmögliche dachkammer      eingesperrt im staub
spinnen- oder fliegenleichen
geschnitzte schachteln, entworfen für geisterhaftes leben
bis meine hand      sich öffnend fingerabdrücke hinterläßt
mäuse auf der treppe, getreten und wieder zu sich gekommen

vor hundert jahren gewecktes licht
quiekt und      schneidet des dichters wahnsinnsschatten ab
eine wolke steht auf den schieferplatten
pflegt sich in grau-weiße knöchel zu zersetzen
eine einzige deklamation in nächster nähe zu den lebenden
die wie reliquien zufällig meine finger durchstöbert
zeigte      die scham, die wir alle spüren sollten

[Wo das Meer stillsteht 2,7] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,9]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

...

zerrissen die dunkle
himmelsseide
triefende wolkenfetzen
und nacktes blau
rund um die türmenden
gipfel des donners

im mund fusselnde
stimmennester
aus vogelkehlen

Dienstag, 3. Mai 2005

...

schwimm nicht zu weit hinaus
hörst du?
das wassser ist kalt
hörst du?
hände werden dich ergreifen
hörst du?
dich fortziehen, wer weiß wohin
hörst du?
dorthin wo ungeheuer lauern
hörst du?
an den strand von keinland
hörst du?
ersaufen wirst du
hörst du?
dich aufblähen
hörst du?
wie eine totgefahrene katze
hörst du?
am straßenrand
hörst du?
schwimm nicht zu weit hinaus
bleib auf dem rechten weg

(bin ich jetzt zuweilen
auch noch rotkäppchen???)

Montag, 2. Mai 2005

...

[Wo das Meer stillsteht 2,7]

Nachbarn III

vergessen zu sein ist ein glück      sagt sie
laß diejenigen, die keine müdigkeit kennen, das erinnern lernen

jede frau beginnt damit, ihren körper zu berühren
sagt sie      jedes dunkle wissen stimmt mit korruption überein

blut      zündet die letzte kerze an
dann beginnt der purpurne nachthimmel, wunden zu spinnen

eine made gräbt einen tunnel und verbirgt einen winzigen tod
in der falle gefangenen überwinternden tod

eine tote frau      gleich einem ungelesenen autor
geht treppab schwanger mit einem geheimen kind

engel      fledermäuse mit welken zitzen      ziehen die flügel ein
hängen kopfunter herab von der schneeweißen haut

sagt sie      die mörderhand ist es müde, hilfe zu reichen
langeweile ist das einzige bett

auf dem kleinen see kommen und gehen die wasserschlangen
sie steht am ufer      ist mondlicht, das sich nichts angeht

wenn eine mondfinsternis fleisch berührt, sickert schwarzer sumpf hervor
so wandelt sich eine frau in etwas anderes

[Wo das Meer stillsteht 2,6] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,8]
Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

Sonntag, 1. Mai 2005

...

unsere eidechsenzungen

kaltblütiges harren
in praller sonne

raschelnde flucht

ein dieb
bleibt nicht stehen

Samstag, 30. April 2005

...

genius

Paul KLEE: Un génie sert un petit déjeuner

...

manchmal
schönes wort: manchmal
manchmal
da ist mir als ob
manchmal
da sterb’ ich
manchmal
da lieg’ ich im sarg
manchmal
da ist er aus glas
manchmal
da küßt mich ein prinz
manchmal
schönes wort: manchmal
manchmal
da spuck’ ich ihn aus
manchmal
den giftigen apfel
manchmal
da bin ich selber aus glas
manchmal
da ist nichts im spiegel
manchmal
da bin ich selber sarg
manchmal
ganz aus glas
schönes wort: manchmal
manchmal
da bin ich schneewittchen

Freitag, 29. April 2005

...

mit einem tiefen dunklen braun
überziehen eggen rings die äcker
angespannt ans scheppern alter trecker
die trotzdem hanghinauf sich traun

durch wälder fern, da tobt kein faun
keine nymphen, nur das schafgemecker -
höchstens brummen vielleicht doppeldecker
die sieht man dann vorüberblau’n

betäubt sitz’ ich nun hier herum
die ohren taubgelärmt vom dröhnen
doch plötzlich sind die trecker stumm

im seichten wind der vögel tönen
der bienen summhypnotikum –
und wollen mit der welt versöhnen

(similsonetto 2)

Donnerstag, 28. April 2005

...

Лолита, свет моей жизни, огонь моих чресел. Грех мой, душа
моя. Ло-ли-та: кончик языка совершает путь в три шажка вниз по
небу, чтобы на третьем толкнуться о зубы. Ло. Ли. Та.
Она была Ло, просто Ло, по утрам, ростом в пять футов (без
двух вершков и в одном носке). Она была Лола в длинных штанах.
Она была Долли в школе. Она была Долорес на пунктире бланков. Но
в моих объятьях она была всегда: Лолита.

von hier: http://www.rosinstrument.com/cgi-bin/showtext.pl/Nabokov/lolita.txt

Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, an the teeth. Lo. Lee. Ta.
She was Lo, plain Lo, in the morning, standing four feet ten in one sock. She was Lola in slacks. She was Dolly at school. She was Dolores an the dotted line. But in my arms she was always Lolita.

von hier: http://www.lesekost.de/themen/HHLTH04.htm (über einen angeblichen deutschen vorläufer der Nabokovschen meisterwerks)

vgl. auch hier: http://www.abendschein.ch/weblog.php?id=P514 und http://abgebr.antville.org/stories/1109150/

und auf dem rand der badewanne lag heute (noch bevor ich die beiden obigen beiträge las) eine zeitschrift, auf den aufgeschlagenen seiten eine anzeige für die videocassette mit der Kubrick-verfilmung...

...

[Wo das Meer stillsteht 2,6]

Nachbarn II

                                   in einer anderen zeit
rammt schweres himmelblau      vögel in den lehm
zwielicht als fleißige säge an den ästen
tragisches lächeln der baumstümpfe      eine kraftlose rache

                                   in einer zeit, die uns trennt
drückt ein skelettförmiger tisch sich fest an einen anderen
die toten, die niemals fortgegangen
wie lampen      bersten still in den kiefernzapfen
erschüttern der fledermäuse flaumige pechschwarze ohren

                                   in einem anderen augenblick
sind wir noch das stille unfertige werk
eingerammt in den lehm von jeglicher stimme      zurückgelassen
ein ein-wort-heute zu sein
eine berühmte sprache, die einst über antikes porzellan kroch

[Wo das Meer stillsteht 2,5] <<>> [Wo das Meer stillsteht 2,7]

...

sinneswahrnehmungen töten einen oger im busch
nicht eben orthodox obschon dezidiert
ringt ein nachsinnender - rankt nächtlich näher
zungenstillstand im tosen cholerischer temperamente
horchgesten ohnmächtiger trunkenbolde bebildern
sinneswahrnehmungen endogen erzeugt im nervenkostüm

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